Karl Philipp Moritz' Auseinandersetzung mit der menschlichen Seele ist in der Forschung aus verschiedenen Perspektiven untersucht worden: etwa der biographischen, philosophischen, sozialhistorischen und psychologischen. Ziel der vorliegenden Dissertation ist eine Untersuchung von Moritz' Subjekt-Verständnis aus kulturgeschichtlicher Sicht. Dies ist noch ein Desiderat der Forschung. Subjektivität wird als Kernwert und zugleich als Kernproblem einer sich am Ende des 18. Jahrhunderts aus verschiedenen Traditionssträngen (Pietismus, Quietismus, Empfindsamkeit, Anthropologie usw.) entwickelnden Weltanschauung betrachtet: Moritz' intensive Beschäftigung mit dem Subjekt ist im Grunde als eine Beschäftigung mit den Zeitfragen zu verstehen, die aus einem neuen Weltbild entstehen. In drei Schritten soll dies aufgezeigt werden. Zunächst wird auf Moritz' Erfahrungsseelenkunde eingegangen, auf die Voraussetzungen für dieses neue empirisch-psychologische Studium des Menschen in der Tradition und auf die besondere Position dieses Autors innerhalb der Diskussion seiner Zeit. Zweitens wird Moritz' literarische Menschendarstellung analysiert. Diese Menschendarstellung spiegelt einen kulturellen Umbruch wider: Sie nimmt zwar von der Tradition der Empfindsamkeit her ihren Lauf, aber sie stellt sie zugleich eindeutig in Frage. In diesem Rahmen kann Rousseaus Kulturkritik als eine der Quellen von Moritz' Ansichten über den Menschen und die Gesellschaft seiner Zeit gelten. Im Hinblick darauf sind auch die Verknüpfungen zwischen dem Menschenbild Moritz' und des jungen Goethe zu thematisieren. Besonders deutlich zeigt sich dieses Menschenbild in Moritz' psychologischem Roman Anton Reiser. Anhand der Pathographie Anton Reisers, die sich im Koordinatensystem "Unterdrückung-Selbstinszenierung-Selbsttäuschung" abspielt, lässt sich darlegen, dass der von Moritz dargestellte Mensch Repräsentant einer Schwellenzeit ist, einer Zeit, welche gerade an der Apotheose einer extremen Subjektivität leidet. In diesem Kontext lässt sich drittens auch Moritz' antisubjektives ästhetisches Programm verstehen: Die Kunst darf nicht zur Funktion der pathologischen Wirklichkeit des Subjektes werden. Vielmehr muss sie sich zu einem autonomen, aber repräsentativen Symbol für die Wirklichkeit entwickeln. Diese programmatische Trennung von Kunst und Leben empfindet Moritz in einer Zeit extremer Selbstbezogenheit als notwendig. Einerseits überschneiden sich Moritz' Erfahrungsseelenkunde, Literatur und Ästhetik in der Warnung vor den Gefahren eines "kranken" Subjektivismus, andererseits sind sie selber auch als Ergebnisse eines subjektiven Weltbildes zu betrachten. Wie ein roter Faden zieht sich die Denkfigur des "subjektiven Antisubjektivismus" durch Moritz' ganzes Werk. Darin besteht vielleicht auch Moritz' Modernität, in der einer der Gründe für das immer stärkere Interesse an diesem Autor liegt. Ein übergeordnetes Ziel der vorliegenden Dissertation besteht darin, dieser Denkfigur auf den Grund zu gehen und sie in einem systematischen Zugriff herauszuarbeiten.

Subjektiver Antisubjektivismus: Karl Philipp Moritz als Diagnostiker seiner Zeit

FOSSALUZZA, Cristina
2006-01-01

Abstract

Karl Philipp Moritz' Auseinandersetzung mit der menschlichen Seele ist in der Forschung aus verschiedenen Perspektiven untersucht worden: etwa der biographischen, philosophischen, sozialhistorischen und psychologischen. Ziel der vorliegenden Dissertation ist eine Untersuchung von Moritz' Subjekt-Verständnis aus kulturgeschichtlicher Sicht. Dies ist noch ein Desiderat der Forschung. Subjektivität wird als Kernwert und zugleich als Kernproblem einer sich am Ende des 18. Jahrhunderts aus verschiedenen Traditionssträngen (Pietismus, Quietismus, Empfindsamkeit, Anthropologie usw.) entwickelnden Weltanschauung betrachtet: Moritz' intensive Beschäftigung mit dem Subjekt ist im Grunde als eine Beschäftigung mit den Zeitfragen zu verstehen, die aus einem neuen Weltbild entstehen. In drei Schritten soll dies aufgezeigt werden. Zunächst wird auf Moritz' Erfahrungsseelenkunde eingegangen, auf die Voraussetzungen für dieses neue empirisch-psychologische Studium des Menschen in der Tradition und auf die besondere Position dieses Autors innerhalb der Diskussion seiner Zeit. Zweitens wird Moritz' literarische Menschendarstellung analysiert. Diese Menschendarstellung spiegelt einen kulturellen Umbruch wider: Sie nimmt zwar von der Tradition der Empfindsamkeit her ihren Lauf, aber sie stellt sie zugleich eindeutig in Frage. In diesem Rahmen kann Rousseaus Kulturkritik als eine der Quellen von Moritz' Ansichten über den Menschen und die Gesellschaft seiner Zeit gelten. Im Hinblick darauf sind auch die Verknüpfungen zwischen dem Menschenbild Moritz' und des jungen Goethe zu thematisieren. Besonders deutlich zeigt sich dieses Menschenbild in Moritz' psychologischem Roman Anton Reiser. Anhand der Pathographie Anton Reisers, die sich im Koordinatensystem "Unterdrückung-Selbstinszenierung-Selbsttäuschung" abspielt, lässt sich darlegen, dass der von Moritz dargestellte Mensch Repräsentant einer Schwellenzeit ist, einer Zeit, welche gerade an der Apotheose einer extremen Subjektivität leidet. In diesem Kontext lässt sich drittens auch Moritz' antisubjektives ästhetisches Programm verstehen: Die Kunst darf nicht zur Funktion der pathologischen Wirklichkeit des Subjektes werden. Vielmehr muss sie sich zu einem autonomen, aber repräsentativen Symbol für die Wirklichkeit entwickeln. Diese programmatische Trennung von Kunst und Leben empfindet Moritz in einer Zeit extremer Selbstbezogenheit als notwendig. Einerseits überschneiden sich Moritz' Erfahrungsseelenkunde, Literatur und Ästhetik in der Warnung vor den Gefahren eines "kranken" Subjektivismus, andererseits sind sie selber auch als Ergebnisse eines subjektiven Weltbildes zu betrachten. Wie ein roter Faden zieht sich die Denkfigur des "subjektiven Antisubjektivismus" durch Moritz' ganzes Werk. Darin besteht vielleicht auch Moritz' Modernität, in der einer der Gründe für das immer stärkere Interesse an diesem Autor liegt. Ein übergeordnetes Ziel der vorliegenden Dissertation besteht darin, dieser Denkfigur auf den Grund zu gehen und sie in einem systematischen Zugriff herauszuarbeiten.
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